Restavek (Kinder, die als Dienstboten arbeiten)Autor: Guy Antoine, veröffentlicht am 29. März 1998
Übersetzerin: Wooslène Vanginé, 4. März 2000
Das Los der Restaveks in Haiti ist oft schlimmer als die Haitianer der Mittelschicht im allgemeinen zugeben. Wenn man das harte Leben unserer Landsleute auf den Zuckerrohrplantagen in der Dominikanischen Republik betrachtet, dauern die Sklavereiähnlichen Zustände, sowohl in Haiti, als auch außerhalb des Landes an. Um zu überleben müssen die Armen schon vor Beginn der Pubertät hart arbeiten. Das ist die Schande unserer Generation.
Auch ich war Zeuge einiger unbeschreiblicher Grausamkeiten, als ich in Haiti aufwuchs. Ich erinnere mich an ein dünnes, winziges und kleines Mädchen, das nicht größer als drei Fuß war, und, das einen riesigen Eisblock auf den Kopf trug. Es war deutlich zu erkennen, daß sie sich gewaltig anstrengen mußte, um den Eisblock vom Eisgeschäft bis zu dem weit entfernt liegenden Haus ihrer Wohltäter zu tragen. Mit Wohltäter meine ich die Leute, die ihr ein Obdach im Austausch gegen ihre Dienste im Haushalt gaben. Diese Kinder haben weder Anspruch auf einen Ruhetag, noch auf lange Nachtruhe, ein langes Wochenende, Geburtstagsgeschenke oder ein freundliches Wort...
Was mich im Laufe der Jahre mehr und mehr beschäftigt, ist meine damalige Reaktion auf diesen Vorfall. War ich über die Situation entsetzt? Sicherlich! Ich habe mich äußerst unwohl gefühlt. Offensichtlich waren VIELE der Zuschauer beim Anblick des oben genannten Mädchens ebenfalls schockiert. Sie schauten zu, gingen sogar langsam vorbei, jedoch hielten sie sich in sicherer Entfernung von dem Mädchen. Habe ich damals, als Fünfzehnjähriger, oder hat irgendeiner dieser empörten Erwachsenen irgendwie versucht diesem Mädchen zu helfen? Hat irgendeiner von uns versucht, dieses Kind von seiner schweren Last zu befreien? Nein, keiner von uns... Entweder haben wir gar nicht daran gedacht, oder wir haben es nicht gewagt. Das sind die Ereignisse unseres Alltags. Die zahlreichen Vorwürfe, der im Ausland lebenden Haitianer, werden keine Besserung der Lebensbedingungen der kleinen Mädchen und Jungen bringen, die als Dienstmädchen oder Restavek arbeiten. Nur unmittelbare Handlungen können etwas bewirken, falls Sie sich betroffen fühlen und falls Sie es wagen.
Es gibt einen anderen Aspekt, den wir so oft in unserer weitgefächerten intellektuellen Debatte und den Vorwürfen an die in Haiti lebenden Haitianer vergessen. Jeder, der in Haiti aufwächst, wird mit den Einstellungen von Überlegenheit erzogen, die auf äußerlichen Faktoren, wie Hautfarbe oder Reichtum basieren. Niemand ist als Jesus Christus geboren. Viele von uns haben sich daran gewöhnt, einige Ungerechtigkeiten als NORMAL anzusehen, weil dies die NORM ist, die wir von der Geburt bis zur Kindheit, von der Adoleszenz bis zum Erwachsensein, um uns herum sehen. Falls wir gebildet genug sind, um Recht von Unrecht unterscheiden zu können, dann sollten wir über den Weg nachdenken, wie wir dies den Anderen vermitteln können, anstatt den Haitianern zu sagen, wie schlecht sie tatsächlich sind. Wir sollten besser eines Tages zu dem kleinen Mädchen gehen und den Eisblock von ihrem Kopf nehmen, anstatt mit einer verurteilenden Miene zuzusehen und vorbei zu gehen. Ich hoffe, daß all meine Überlegungen mir helfen werden, dies in meinem eigenen Leben zu tun, wenn ich mich angesprochen fühle, wenn ich es WAGE ...
Ich erinnere mich daran, wie ich die Großzügigkeit meiner Mutter bewundert habe, als sie unsere "Restaveks" zur benachbarten Schule schickte, damit sie die Grundlagen von Lesen und Schreiben lernen... Für mich war dies die Großzügigkeit meiner Mutter und nicht das Recht der Kinder. Trotz der ganzen Arbeit, die sie von fünf Uhr morgens bis zehn Uhr abends erledigten, wunderte ich mich jedes mal, wieso sie in meinem Haus eine kurze Mittagspause (sie arbeiteten nicht!!!) in den Dienerräumen machen durften. Ich erinnere mich ein kleines Mädchen verprügelt zu haben, weil sie ein kleines Stück meines Geburtstagskuchens gestohlen hatte (ungeschickter weise hatte sie ihre Fingerabdrücke darauf gelassen). Ich zwang sie es zuzugeben, indem ich ihr damit drohte, sie den Vodoo-Priester oder ähnliches zu holen (obwohl ich eigentlich an solche Vodoo-Wirkungen nicht glaubte). Erschrocken gestand sie das Verbrechen und ich bestrafte sie dementsprechend. Es ist unglaublich, daß ich Jahre brauchte, um zu erkennen, daß das Mädchen möglicherweise nie zuvor Kuchen gekostet hatte. Und sie hätte vielleicht den Drang nicht verspürt ihn zu stehlen, wenn ich großzügig genug gewesen wäre ihr ein Stück anzubieten. So lange brauchte ich zu erkennen, daß es vielleicht ihr Recht war, auch ein Stück des Kuchens zu bekommen. Diese einfachen Gedanken genügten, um mir dazu zu bringen, einige meiner Einstellungen grundlegend zu ändern. Niemand in meinem Umfeld hat je mein Verhalten verurteilt, Sie können es mir glauben. Die Zahl der Ungerechtigkeiten in diesem Leben, insbesondere für die Haitianer in Haiti, ist ausgesprochen unglaublich und wir ALLE sind bis zu einem gewissen Grad daran beteiligt. Nur mit richtiger Erziehung, Solidarität und den daraus folgenden Handlungen können wir beginnen das Unrecht zu beseitigen...
Copyright Ó 1998 Guy S. Antoine